Samstag, 16. Mai 2015

Tiddler - The story telling fish von Julia Donaldson

Sprache bildet Wirklichkeit nicht nur ab, sondern stellt sie auch her. Für diese Überlegung sind Poststrukturalisten in der Wissenschaft bekannt. Mit dieser Aussage grenzen sie sich von jenen Sozialwissenschaftlern ab, die davon ausgehen, dass es im menschlichen Miteinander Gesetzmäßigkeiten gibt. Wie man sich das vorstellen kann, zeigt das Bilderbuch "Tiddler - The story telling fish", auf deutsch erschienen unter dem Titel "Der Flunkerfisch". Ich beziehe mich hier jedoch auf das englische Original, weil es eine viel stärkere Aussage hat, als die nicht in allen Teilen gut gelungene Übersetzung. Dies ist schon am deutschen Titel "Der Flunkerfisch" zu erkennen, der unterstellt, dass der Protagonist, ein kleiner Fisch, nicht die Wahrheit sagt. Ob Wahrheit oder nicht, bleibt im englischen Original von Julia Donaldson und Axel Scheffler bis zum Schluss offen. Dabei handelt es sich um ein sehr wichtiges Detail. Darauf komme ich später noch einmal zurück. Zunächst zum Inhalt. Tiddler ist ein kleiner Fisch, der immer zu spät in die Schule kommt und jeden Tag eine neue Ausrede für sein Zuspätkommen vorbringt. Einmal war er mit dem Delfin Luftsprünge mache, dann war er in einer Schatztruhe gefangen und musste von einer Meerjungfrau gerettet werden, das andere Mal musste ihn eine Schildkröte aus den Fängen eines Kraken befreien, damit er zur Schule kommen konnte. Natürlich glaubt niemand diese Geschichten, bis auf Little Johnny Dory, der sie zu Hause immer seiner Großmutter weiter erzählt. Eines Tages erdenkt Tiddler sich wieder eine Geschichte. Das ist die einzige Stelle im Buch, die vermuten lässt, dass die Geschichten tatsächlich nicht erlebt werden. Sie ist jedoch nicht aussagekräftig genug, um die bereits erwähnte Geschichten allesamt zu negieren. Jedenfalls erlebt Tiddler gedanklich auf dem Schulweg eine Geschichte, die ihn unachtsam sein und in ein Fischernetz schwimmen lässt. Nun beginnt eine Geschichte, an deren Wahrheitsgehalt überhaupt kein Zweifel besteht. Schließlich erleben sie alle Leser und Zuhörer, das Buch ist aufgrund seiner Reimform ein hervorragendes Vorlesebuch, hautnah mit und werden damit zu Zeugen. Tiddler wird also gefangen, aber auch gleich wieder frei gelassen, weil er zu klein und unbedeutend für die Fischer ist. Dumm ist nur, dass Tiddler entfernt von der Fangstelle ins Wasser geworfen wird. Er ist nun weit weg von zu Hause und kennt den Weg zurück nicht. Tiddler hört jedoch, wie sich ein Schwarm Sardellen über seine Geschichten unterhält. Kurzerhand erkundigt er sich, woher die Sardellen die Geschichten kennen. Der Schwarm führt ihn zu einem Shrimp, der Shrimp zum Wal und so weiter. "Tiddler is tracking down his story." Mit jeder Befragung kommt er näher nach Hause, bis er schließlich bei der Großmutter von Little Johnny Dory, und dann auch in der Schule, ankommt. Schließlich ist er wieder zu Hause. Ohne seine Geschichten wäre das nicht möglich gewesen und egal ob die Geschichten zuvor erfunden waren oder nicht, nur durch ihre Existenz hat er die Möglichkeit die größte seiner Geschichten zu erleben und dann auch in der Schule zu erzählen. Es besteht kein Zweifel, dass alle seine Ausreden draußen im grossen Meer existent waren und somit ein Teil realer Wirklichkeit. Wie es dazu gekommen ist, findet Tiddler selbst heraus, indem er die Geschichten bis zu ihrem Ursprung zurück verfolgt. Ruckzuck befinden wir uns mitten drin in erkenntnistheoretischen Fragestellungen. Wahnsinn, was Bilderbücher alles leisten. Auch wenn dieses Buch, vermutlich aufgrund der weniger gefälligen Illustration des Hauptdarstellers - es ist eben kein Gruffelo, der sich perfekt als Merchandisingprodukt eignet - nicht die Reichweite erreicht hat, die es verdient, so gehört dieses Buch dennoch in jedes Kinderzimmer und eigentlich auch in viele Erstsemesterseminare an der Uni. Und jetzt würde ich wirklich mal gerne wissen, warum es sich hier um ein klassisch fiktives Bilderbuch handeln soll? Das ist doch ein Sachbuch erster Güte, oder nicht?
      

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